Masuren, 9.-12. Juni 2006

Während wir an allen unseren vorhergehenden Etappenzielen einigermaßen gut wußten, was uns erwartete und was wir wollten, wußten wir von Masuren wenig mehr als den Namen.
Nachdem wir auf dem Rückweg aus Litauen die Grenze nach Polen überquert hatten, was erstaunlich rasch vonstatten ging, vermißten wir bald die gut ausgebauten litauischen Straßen. Statt dessen gab es wieder dichteren Verkehr und schlechte Straßenbeläge mit vielen Baustellen. Was eigentlich gebaut wurde, blieb uns immer schleierhaft, da es frisch ausgebaute, schlaglochfreie Straßen schlicht nicht gab.
Unser erstes Ziel in Masuren hieß Mikołajki, und im nachhinein fällt es schwer, sich zu erinnern, was uns zu dieser Entscheidung bewog. Mikołajki ist am Żniardwy- oder Spirdingsee, dem größten der polnischen Seen, gelegen. Ein Zeltplatz war schnell gefunden. Wir merkten bald, daß Masuren ein beliebtes Reiseziel der Deutschen und hier besonders der Wohnmobilfahrer ist. Bis auf wenige Ausnahmen war unser Zeltplatz belegt mit deutschen Wohnmobilen - und unser kleines Zelt mittendrin.Allee in Masuren Der Kontrast zur litauischen Einsamkeit hätte kaum größer sein können. Der Ort selbst bildet keinen geringeren Kontrast. Es gibt jede Menge Imbißbuden und Souvenirshops. Was uns wie ein riesengroßer Rummel schien, war für die deutschen Urlauber, die sich Masuren von Westen genähert und das Ruhrgebiet oder Berlin hinter sich gelassen hatten, eine Art Ende der Welt. Es ist eine Frage der Perspektive.
Wir besuchten kurz das Łuknajno-Schutzgebiet in der Nähe des Ortes und fanden auch einen Beobachtungsturm. Nur sahen wir keine ungewöhnlichen Vögel.
Als wir am Abend einen Blick auf unsere Masurenkarte warfen, stellten wir fest, dass der Ort Sztynort, Steinort, der ehemalige Sitz der Familie Lehndorff, genau nördlich von uns lag. Diesen Ort wollten wir gern besuchen. Hätten wir ihn schon eher auf der Karte entdeckt, so wären wir wohl direkt dort hingefahren und hätten Miko?ajki von unserer Reiseroute gestrichen. Überdies hatten wir das Pech, daß am Abend der Ort nahezu unpassierbar wurde, da irgendeine Rallye-Veranstaltung mitten durch Mikołajki führte und zahlreiche Straßen gesperrt wurden. Dahinter trat sogar der Beginn der Fußball-WM am gleichen Abend zurück.

Am nächsten Morgen packten wir unsere Sachen schnell ins Auto, während die Wohnmobilbewohner um uns herum sich mit umfangreichen Frühstücksvorbereitungen beschäftigten.
Wir fuhren weiter und fanden einen netten Zeltplatz, wiederum direkt an einem See, ziemlich nahe bei Sztynort gelegen. BienenkörbeObwohl es Wochenende war: Unter die deutschen Urlauber mischte sich nur ein einziges polnisches Paar. Wohnmobile waren allerdings gegenüber Kleinbussen und Zelten fast in der Minderheit. Hier konnten wir die Rohrdommel rufen hören und auch Kraniche. Das war eher nach unserem Geschmack.
Der Weg zum Zeltplatz hatte uns durch schöne Alleen geführt. Die Baumkronen sind oft über der Straße zu einem dichten Blätterdach verwachsen, und die Bäume, meist Linden, dürfen auch im unteren Stammbereich ihre Äste behalten, sodaß man die Baumstämme kaum sehen kann, anders als man das von Deutschland kennt.
In Sztynort besuchten wir das Herrenhaus der Familie Lehndorff. Sztynort hat einen Jachthafen, und das Gut der Lehndorffs, das als Herrenhaus das Ortsbild prägt, gehört heute dem Jachthafenbetreiber. Die Seitengebäude wurden gerade ausgebaut, aber das Gutshaus war noch überhaupt nicht restauriert. Ein Storch hatte sich auf einem hinteren Dach ein Nest gebaut und in den Mauern des Gutshauses, von dem überall der Putz abfiel, hatte sich ein Bienenschwarm eingenistet. Wir wanderten noch ein wenig durch den Park mit seinen vielen alten Bäumen. Manche der alten Eichen hatten so große Hohlräume im Stamm, daß man sich hätte darin verstecken können. An einer kleinen Kapelle flogen sehr viele Rosenkäfer herum.
Um die Gegend besser kennenzulernen, fuhren wir in westlicher Richtung aus Sztynort hinaus und drehten eine weite Runde nach Norden fast bis zur russischen Grenze. Dies gab uns die Möglichkeit, einmal ruhige Ecken Masurens kennenzulernen, abseits der touristisch überlasteten Seen. Das Wetter war wunderbar. Man hatte einen wunderschönen Ausblick über hügelige Felder, Wälder und Seen. In einem abgelegenen Dorf gingen wir an einen kleinen See. Im Schilf sangen die Reichrohrsänger. Kurz vor einem Wald machten wir ein Picknick und konnten dabei in einen klaren Wassergraben blicken, der voller dicker Kaulquappen und winziger Fische war. Nicht weit davon entfernt gab es eine nasse Senke im Feld, wo verschiedene Röhrichte und Wollgras wuchsen und die Rotbauchunken daraus riefen.
Als wir ein einsam gelegenes Dorf passierten, hielten wir noch einmal an. Ein Raubwürger jagte dort auf einer frisch gemähten Wiese nach Insekten für seine Jungen, die hoch oben in einer Pappel im Nest warteten und bei der Ankunft eines der Eltern durchdringend schrieen. Ganz in der Nähe führte ein Kanal entlang, der gänzlich mit Schilf zugewachsen war.
Wir verließen das Dorf und fuhren über einen Waldweg zurück in belebtere Gegenden. Der Waldweg war sehr viel besser in Schuß als viele polnische Hauptstraßen.Blühender Schneeball Auf halbem Wege ging der Wald in Erlenbruchwald über, die Bäume standen im Wasser, es blühten Sumpfschwertlilien und hier, so weit weg von jeglichem Zivilisationslärm, konnten wir einem so wahnsinnig schönen Unkenkonzert lauschen, daß man eine Gänsehaut bekam.
In der Nähe der russischen Grenze suchten wir nach einem weiteren Herrenhaus. Wir fanden es nicht, dafür kamen wir durch ein sehr kleines Dorf namens Perły, das neun Storchennester beherbergte, und in jedem Nest gab es mindestens zwei Kücken.
Weil der Abend noch fern war, entschieden wir uns, weiter nach Giżycko zu fahren, ins touristische Zentrum der nördlichen Masuren, das ungleich beschaulicher war als Mikołajki im Süden. Natur liegt uns deutlich mehr als Militärgeschichte.Zeltplatzleben In Gyżicko jedoch, nach einem ganzen Tag in der Natur, besuchten wir zum Ausgleich die nach einem preußischen Kriegsminister benannte Festung Boyen aus dem 19. Jahrhundert. Es gibt einen großen Erdwall um die Festung, und innen gibt es viele Zweckgebäude. In einem Museum kann man etwas über die Zerstörungen durch den 2. Weltkrieg und die Festung selbst erfahren. Gyżicko hieß bis 1945 Lötzen. Hier lernten wir, daß man in Masuren an der Geschichte kaum vorbeikommt.

Morgens kam ein junger Hase auf dem Zeltplatz ganz nah an unseren Tisch heran, dann aber rannte er schnell weg, weil wir uns zu schnell umgedreht hatten. Viele Junikäfer flogen dicht am Boden durchs Gras.
Wir hatten keinen genauen Plan für diesen Tag, wollten es nach den langen Strecken an den Tagen zuvor nur ruhiger angehen lassen. Ringo hatte mit dem Mann vom Zeltplatz ausgemacht, daß wir von ihm ein Kanu bekommen können, um hier ein bißchen auf dem See herumzupaddeln. Das Wetter war zwar schön, aber es blies ein so kräftiger Wind, daß wir lieber eine Tour auf einem Fluß unternehmen wollten, um den hohen Wellen zu entgehen. Wir fuhren zu anderen Campingplätzen mit Bootsverleih, um dort vielleicht ein Kanu für eine Tour auf einem Flüßchen zu buchen. Es gelang uns jedoch nicht, da keiner den Transport übernehmen wollte. An einer Bootsstation kauften wir (viel zu spät) eine sehr detaillierte Karte der Umgebung, nach der wir eine Wanderung ein paar Kilometer westlich eines Ortes namens Węgorzewo planten. Wir liefen zunächst einen Teil des Weges am Westufer eines Sees auf einer Sandstraße durch Wiesen und Weiden. Die Sonne brannte vom wolkenlosen Himmel und laufend wirbelten vorbeifahrende Autos Staub auf.Maikäfer Ringo entdeckte eine ganze Neuntöterfamilie, und Diana fand den ersten lebendigen Maikäfer, den wir beide je gesehen hatten. Am Wegesrand blühten Weißdorn und Schneeball, auf den Wiesen Margariten und Kuckuckslichtnelken. Als der Weg keine weitere Abwechslung mehr versprach, kehrten wir um und wanderten statt dessen nicht weit davon entfernt am Masurenkanal entlang. Gleich zu Beginn des Weges passierten wir eine sehr große Schleuse, die, wie unschwer am mit allerhand Graffiti verzierten Reichsadler zu erkennen war, in deutscher Zeit gebaut wurde.Kanal Das Wasser im Kanal war sehr seicht und überall wuchs Schilf. Biber sollen hier zahlreich sein, und tatsächlich entdeckten wir eine Biberburg und jede Menge Bäume, die Fraßspuren von Biberzähnen aufwiesen. Auch hier entdeckten wir wieder Maikäfer. Weiter am Kanal entlang schwamm eine Schellente mit sieben Jungen.
Der Weg führte durch Unterholz und hohes Gras, auf der anderen Seite des Weges war ein Sumpf mit vielen toten Bäumen, aus dem wie selbstverständlich die Unken riefen. An einem Überweg wechselten wir schließlich zum anderen Ufer des Kanals, um zurückzugehen. Wir machten eine Rast. Es wuchsen Teichrosen im Wasser, und ein paar Erlenäste und -stämme lagen dort. An dieser Stelle konnten wir so viele Kaulquappen beobachten, die das faulige Holz abweideten, daß das Wasser zu brodeln schien. Aus allen Richtungen des Kanals zogen neue Legionen von Kaulquappen heran. Bald wurde es den gerade fressenden Quappen an der Wasseroberfläche zu warm, sodaß sie abtauchten und um das Holz herumschwammen. Es sah aus wie eine Pilgerfahrt, alles bewegte sich im Kreis.
Nach der Wanderung machten wir endlich an einem Fischrestaurant ganz in der Nähe halt und aßen gebratenen Aal und Barsch. Es war sehr lecker. Zwei dürre, liebe Katzen bettelten um die Fischgräten, die sie auch bekamen. Die anderen Besucher waren weniger freigiebig, aber das war nicht so schlimm, denn nachdem diese gegangen waren, holten sich die Katzen die Reste vom Teller.
Und weil der Tag noch nicht zu Ende war, besuchten wir, trotz all unserer vorherigen Erklärungen, dort nicht hinzuwollen, die ganz in der Nähe gelegene Wolfsschanze, den Führerbunker aus dem zweiten Weltkrieg. Wir vermuteten dort jede Menge Touristen, die sich eher an die "guten alten Zeiten" erinnern lassen wollten. Der Reiseführer sprach davon, daß das Gebiet ziemlich überlaufen sei.
Wie es manchmal ist. Man kommt an, und alles ist anders, als man es sich vorgestellt hat. Nur wenige Touristen hatten sich hierhin verirrt. Am Einlaß sprach uns ein polnischer Alter an und stellte sich als unser Führer vor.Gesprengter Bunker - Wolfsschanze Wir zahlten den geringen Preis für seine Dienste und ließen uns dafür einiges erzählen über die verschiedenen Stadien der Umwandlung der dortigen Baracken. Während des Krieges wurden sie immer weiter verstärkt, bis zu monströsen Bunkeranlagen, die durch Tarnnetze versteckt im Wald lagen. Alles war überirdisch.Diana am See Viel wußte unser Führer über das Attentat auf Hitler zu erzählen. Später im Krieg, unmittelbar vor der Räumung, sprengten dann die Nazis selbst die Bunker. Die Überreste dessen kann man besichtigen. Zehn Meter dicke Bunkerwände lagen umgekippt und zertrümmert. Auf den Ruinen stand unübersehbar und in vier Sprachen der Hinweis, die instabilen Gemäuer auf keinen Fall zu betreten. Dennoch forderte uns unser Führer ständig auf, hineinzugehen, uns umzuschauen und zu fotografieren. Wie dieser Ort, von dem so viel Verderben ausging, heute so unauffällig im Wald liegt, stimmt den Besucher nachdenklich.
Auf dem Rückweg zum Zeltplatz hatte uns die Natur wieder: Wir sahen in einer Geländesenke, in der sich Wasser gesammelt und ein schlammiger Teich gebildet hatte, zwei Kiebitzküken. Später sahen wir Kraniche mit zwei orangefarbenen Jungtieren. Bisher hatten wir nur immer gehört, daß Kraniche ganz heimlich im Erlenbruchwald brüten und hier mitten in der Kulturlandschaft. So ist Polen.



Überblick  |  Białowieża  |  Biebrza  |  Litauen  |  Masuren  |  Östlich von Danzig  |  Westlich von Danzig  |  Links |  Literatur  |  Artenliste  |